Tag 2 und Gedanken über Solidarität

Sabina Haas

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17.03.2020

Montag, 16. März 2020, Hausarrest Tag 2Spielplatz Liebes Tagebuch! Ein produktiver Arbeitstag geht zu Ende. Trotz aller Unsicherheit, wie das sein wird, wenn wir zu dritt im Homeoffice sind, hat alles gut geklappt. Also, fast alles: von unserem Internetprovider hat sich noch niemand gemeldet, um unserer Bandbreite zu vervielfachen. Man kann beinahe jedes einzelne Bit beobachten, während es im Schneckenkriechgang über die Leitung kriecht. Dem gemächlichen Aufbau der einzelnen Internetseiten zuzusehen, hat etwas Meditatives: mehr Kontemplation bei der Arbeit; im Hier und Jetzt sein; das annehmen, was jetzt ist; das dürfen wir heute lernen! Das ungewöhnliche Arbeitssetting bringt ungewöhnliche, jedoch für mich sehr zufriedenstellende Arbeitsergebnisse. Ich habe meine Kommandozentrale am Esstisch eingerichtet. Der liebe Gatte belegt den Schreibtisch. Der Teenager erwacht kurz vor 13.00 h aus seinem veränderten Schlaf-Wach-Rhythmus. Nach einer kurzen Diskussion über den Unterschied zwischen Ferien und Corona-Home-Schooling legt er am Nachmittag ordentlich an Produktivität zu. Er krallt sich auch noch ein Stückchen der mageren Bandbreite und organisiert eine virtuelle Latein-Lerngruppe. Gutes Kind. Um ein plötzlich auftretendes Connectivity-Problem zu lösen, radle ich quer durch den Bezirk zum Büro einer Kollegin und wundere mich: in unserer Straße ist es ruhig, aber es sind viel mehr Leute unterwegs, als ich erwartet hätte. Vor allem relativ viele alte Leute. Ich wundere mich, ob die einfach niemanden haben, der für sie Besorgungen macht, oder ob es einfach nur Unbedachtsamkeit ist? Exkurs: Beim Nachsinnieren über das Verhalten der alten Leute fällt mir ein Vortrag über die Fairness zwischen den Generationen ein, den ich vor einigen Wochen gehört habe:
  • Im Allgemeinen sind Menschen solidarisch, bevorzugen aber die eigene Generation (Alte geben mehr an Alte, Junge geben mehr an Junge)
  • Menschen sind eher pessimistisch darüber, dass andere weniger solidarisch sind, als sie selbst.
  • Alte erwarten sich wenig Solidarität von Jungen; sie erhalten aber viel von Jungen.
  • Junge erwarten sich viel Solidarität von Alten; sie erhalten aber weniger von den Alten
  • Junge sind zu pessimistisch gegenüber der eigenen Generation; haben jedoch zu optimistische Erwartungen an die Alten.
  • Alte sind signifikant weniger solidarisch mit den Jungen.
  • Sowohl gut ausgebildete als auch nicht-religiöse Menschen sind mehr solidarisch mit anderen Generationen.
Der Vortragende (Arno Riedl, 30.1.2020, VBEN) nennt es „Risse im Generationenvertrag“. Er führt auch aus, dass die geringeren Erwartungen über Solidarität im Endeffekt zu einem Teufelskreis führt: auch die tatsächliche Solidarität würde sinke. Seine Conclusio in dem Vortrag: man müsse mit politischem Erwartungsmanagement gegensteuern. Die Virus-Krise war zu dem Zeitpunkt ein chinesisches Problem, bei uns noch kein Thema. Heute frage ich mich, was diese Erfahrung mit der Solidarität in unserer Gesellschaft machen wird? Kurzfristig sehe ich in meiner Blase (gut ausgebildet) eine Welle der Solidarität und des Miteinander, fast gelassene Entspanntheit. Wie wird das langfristig, nachhaltig unsere Gesellschaft verändern? Zurück zu meinem kurzen Radausflug: nach den Alten sehe ich eine Horde Kinder am Spielplatz. Aber schon sind unsere Freunde und Helfer zur Stelle: zwei Polizisten steuern (gelassen im Schlendergang) auf den Spielplatz zu. Ich bemerke meine eigenen gemischten Gefühle: die Ambivalenz zwischen kooperieren wollen und dem Reiz sich den Regeln widersetzen. It’s polarity, stupid. Was war sonst heute noch: Ich versuche den Veranstalter eines abgesagten Kongresses in Berlin davon zu überzeugen, dass er mir die Teilnahmegebühr zurück erstatten soll. Ich will nicht auf den Termin in 2021 umgebucht werden. Er hat am Freitag noch zweckoptimistisch verlautet, dass der Kongress SICHER stattfinden wird, da weniger als 1000 Menschen teilnehmen werden. Das war die deutsche Regelung am Freitag, heute ist Montag und alles anders, anyway. Der Teenager droht mit Meuterei, wenn der Anteil an vegetarischen Speisen nicht zurückgeht. Sonst friedlich. Seien wir alle miteinander gespannt, wie das noch weiter geht. Bis morgen hier in diesem Blog, stay tuned!